Wilders vergewaltigt die jüdisch-christliche Tradition 16/6 [DE]
16-06-2009
Huib in 2009, Christentum, Extreme Right, Frauen, Geert Wilders, Islam, Netherlands, Religion and Society, Xenophobia, [DE]

Eine freundliche Hand hat mein erstes Wilders-Artikel (holländisch) ins Deutschen übersetzt und mit Kommentaren bereichert:

Muss das alles denn noch verrückter werden?

Berufsprovokateur Wilders missbrauchte diese Woche aufs Neue seine Immunität als Parlamentarier um - vollkommen außerhalb der Geschäftsordnung der jährlichen Haushaltsdebatte - eine im vorigen Jahr von afghanischen Geiselnehmern vergewaltigte Frau noch einmal zu schänden und gleichzeitig die Regierung Balkenende dafür verantwortlich zu machen.

(A.d.Ü: die für das belgische Männerblatt „P“ arbeitende Journalistin Joanie de Rijke war im vergangenen Jahr durch eine Talibangruppe entführt, unter Unsicherheit und Todesdrohungen gehalten und vergewaltigt worden. Nach zwei Afghanistan-Aufenthalten als „eingebettete“ Journalistin hatte sie das Risiko für kalkulierbar gehalten und auf eigene Faust den Tod von 10 französischen Soldaten recherchiert, die in einen Hinterhalt gelockt und dann umgebracht worden waren. Dieser Vorfall war übrigens später äusserst kontrovers diskutiert worden. Besonders schockiert gewesen war die Öffentlichkeit darüber, daß die Entführer, nach der Ermordung der Zehn, in deren Uniformen für die Presse posiert hatten.

Für diese Recherche hatte de Rijke – durch einen Mittelsmann - ein Interview mit dem Anführer dieser Aktion vereinbart. Dann waren sie und ihr Dolmetscher als Geiseln festgehalten worden. Wie sie hier berichtet, habe sie mit ihrer unmittelbaren Tötung gerechnet. Ein besonders makaberes „Geschenk“ ihrer Entführer waren die zehn Erkennungsmarken der gefallenen französischen Soldaten, darunter einer Frau, deren silbernes Halskettchen sie ebenfalls bekam. Über ihre Erfahrungen und besonders über die seelischen Auswirkungen hatte de Rijke hinterher in ihrer Zeitung berichtet und in einem Internet-Portal, das sich nicht nur traumatischen Erfahrungen von Journalist_Inn_en widmet, sondern auch – als Teil eines internationalen Netzwerks - zu einer feinfühligen Berichterstattung gerade im Angesicht von Katastrophen und schweren körperlichen und seelischen Verletzungen aufruft, und die Journalist_Inn_en darin unterstützen will, selber - bei aller Empathie – die notwenige Distanz zu wahren. Dieses Netzwerk publiziert auch auf Deutsch und steht für journalistische Prinzipien die denen von Wilders und den anderen „Islamkritikern“ diametral entgegenstehen .

Frau de Rijke hat mit Sicherheit ein Psychotrauma erlitten, das in der Wissenschaft wie folgt definiert wird:

Ein Psychotrauma ist ein belastendes Ereignis oder eine Situation von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß. Hierzu gehören Naturereignisse oder von Menschen verursachte Katastrophen, z. B. Erdbeben, eine Kampfhandlung, ein schwerer Unfall oder Zeuge eines gewaltsamen Todes anderer oder selbst Opfer von Folterung, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderer Verbrechen geworden zu sein.

Daß sie jetzt in der Lage ist, ihrem – mittlerweile ebenfalls getöteten Entführer zu vergeben, zeigt, daß es ihr offensichtlich gelungen ist, ihr Trauma zu bewältigen. Jedem Therapeuten würde so etwas den Beginn ihrer Genesung anzeigen. Wilders nicht. Er macht sie nieder, indem er festlegt, wie sie auf ihre Vergewaltigung zu reagieren hat, und nimmt so das Risiko einer Retraumatisierung in Kauf. Eine Retraumatisierung bedeutet:

Erzeugen eines erneuten Traumas, das Aspekte der früheren Ohnmachts- und Gewalterfahrung in sich trägt und zu einer Vertiefung bisheriger traumatischer Erfahrungen führt. Retraumatisierte erfahren eine akute Verschlimmerung ihres Krankheitsbildes...

Huib schreibt weiter:

Wilders posiert fortlaufend als der letzte Verteidiger des „jüdisch-christlichen Erbes“ von Europa gegenüber der „schleichenden Islamisierung“. Wilders und seine amerikanischen und europäischen Kumpane sagen, die (linken) Eliten hätten davor schon kapituliert. Beweis: eine flämische Journalistin, die schon seit Jahren für das Männerblatt „P“ arbeitet (aber zufällig noch die niederländische Staatsangehörigkeit hat), vergibt ihrem afghanischen Geiselnehmer (mittlerweile umgekommen), der sie vergewaltigt hat.

Wie ich weiss, hat noch niemand darauf hingewiesen, daß VERGEBEN, Vergebung schenken, nun gerade ein zentraler christlicher Wert ist. Nicht mehr „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, sondern die andere Wange hinhalten, wenn man geschlagen wird. Man könnte auch sagen, daß das Christentum mit einer – vergebenen – Vergewaltigung begonnen hat, zumindest aber mit einer Verletzung der persönlichen Ehre. Nämlich derjenigen der Jungfrau Maria, als ein Sendbote Gottes ihr die Saat für das Jesuskindlein einpflanzte, obwohl sie doch schon mit Josef verlobt war.

Aber, alle Verrücktheiten auf einer Latte (Freud!): wenn es etwas gibt, das das Christentum von anderen Religionen und Philosophien unterscheidet, dann ist es wohl die moralische Größe der Vergebung. Der Kreuzestod zieht hieraus seine Bedeutung. Wer seinem Feind vergibt, zeigt eine schöne menschliche Seite, nähert sich dem Göttlichen. So mancher Heilige wird für nichts anderes geehrt als seinen Vergebungswillen. Und sagte Unser Vater nicht:

„Und vergib uns unsere Sünden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“?

Wer imstande ist, zu vergeben, ist nicht „schwach“, sondern gerade stark. Oder wurde die Vergebung zufällig entfernt aus Religion und Kultur durch die „Aufklärung“, die regelmäßig von Wilders und Konsorten angerufen wird, um die „Überlegenheit“ der europäischen jüdisch-christlichen Kultur zu untermauern? Habe ich was übersehen? Die Denker der Aufklärung, von Pascal über Voltaire, Rousseau, dem Marquis de Sade bis zu den Machern der amerikanischen und der französischen Revolution haben viel behauptet und dazu oft auch wieder das Gegenteil, aber meines Wissens haben sie vornehmlich plädiert für das Ersetzen von Willkür und dogmatischen Vorurteilen durch eine transparente Justiz, gleich für Jeden, sei er nun Jude, Muslim, Katholik oder Protestant. Und gleich, ob es um einen Mann oder eine Frau geht.

Obwohl – der letzte Grundsatz wird nun gerade vergewaltigt durch Wilders mit seinen Bemerkungen. Darüber später.

Bis dahin sprechen wir über das Unchristliche in unserem Kreuzritter.

Ich bin weder Theologe, noch bin ich an eine christliche Kirche angeschlossen. Was ich hier demonstriere, hätte eigentlich von den christlichen Autoritäten gesagt werden müssen. Wo bleiben die denn? Um Wilders mal zu paraphrasieren: haben sie alle schon vor dem rassistischen Populismus kapituliert, der ihren Glauben zur Geisel genommen hat? In die christliche POLITIK habe ich kein Vertrauen mehr: von dieser Seite nur ohrenbetäubende Stille. Möglicherweise in der Hoffnung, daß die Wilderse genug Stimmen von den Linken und Liberalen erhalten, sodaß sie selbst die größte Partei bleiben können. Das war zumindest der Sinn vom Pärchen Balkenende-Fortuyn (Hinterzimmer-Politik!) 2002.

Somit: Wo bleiben die Christen, die Wilders als unchristlich verurteilen?

In den folgenden Teilen gehen wir auf die anti-jüdischen und frauenfeindlichen Aspekte von Wilders‘ neuestem Ausfall ein.

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